London droht damit, die im EU-Binnenmarktprotokoll vereinbarten Warenkontrollen zu beenden und durch freiwillige Regelungen zu ersetzen. Zudem muss die Rolle des Europäischen Gerichtshofs drastisch reduziert werden. Auch bei der Umsatzsteuer will London mit anpacken. Nach Ansicht zahlreicher Experten wäre dies ein klarer Verstoß gegen internationales Recht. Die Londoner Regierung bestreitet dies jedoch. EU-Vizepräsident Maros Sefkovic hat deutlich gemacht, dass eine Neuverhandlung des Nordirland-Protokolls nicht in Frage kommt. „Es würde nur mehr Rechtsunsicherheit für Menschen und Unternehmen in Nordirland bedeuten“, sagte Sefkovic am Montagabend in Brüssel. Die EU-Kommission prüft nun die Wiederaufnahme von Gerichtsverfahren gegen London, die wegen früherer Verstöße eingeleitet, aber anschließend ausgesetzt wurden. Auch die Einleitung weiterer Vertragsverletzungsverfahren, die den europäischen Binnenmarkt schützen könnten, wird geprüft. Der irische Premierminister Michael Martin nannte den Schritt einen „neuen Tiefpunkt“ und sagte, es sei „sehr bedauerlich für ein Land wie Großbritannien, ein internationales Abkommen zu verletzen“. Der Wind für Johnson kam auch aus der nordirischen Hauptstadt Belfast. In einem von 52 der 90 Abgeordneten im nordirischen Regionalparlament unterzeichneten Schreiben heißt es, dass der Gesetzentwurf den ausdrücklichen Wünschen von Unternehmen und Menschen in Nordirland widerspreche. Kritik kam von der republikanisch-republikanischen Partei Sinn Féin, die bei den Landtagswahlen im Mai erstmals stärkste Kraft in Nordirland wurde. „Es ist rücksichtslos, es ist beschämend und es ist in keiner Weise im Interesse der Menschen hier“, sagte Michelle O’Neill, gewählte Premierministerin und Vizepräsidentin von Sinn Féin. Jeffrey Donaldson, Vorsitzender der protestantischen United DUP-Partei, die aus Protest gegen das Protokoll die Bildung einer Einheitsregierung in Nordirland blockiert, findet lobende Worte. Laut Donaldson ist das, was die Regierung in London präsentiert hat, eine Lösung, und die ist jetzt notwendig. Auch aus den USA kommt Kritik: US-Außenministerin Blinken hat London gewarnt, die Errungenschaften des Nordirland-Friedensabkommens nicht zu gefährden und “die Verhandlungen mit der EU in gutem Glauben fortzusetzen”. Bundeskanzler Scholz sprach von einer “sehr traurigen Entscheidung”. “Es ist eine Abkehr von allen Vereinbarungen, die wir zwischen der Europäischen Union und Großbritannien haben.” Nun wird auch den letzten EU-Kritikern in Großbritannien klar, „was für ein Desaster der Austritt für das Land ist“, kritisierte der EU-ÖVP-Abgeordnete Lucas Madl. Der britische Premierminister Boris Johnson hingegen betonte, der Schritt sei “der richtige Weg” und notwendig, um das “Gleichgewicht und die Symmetrie” des Friedensabkommens zwischen den britischen Unionisten und den irischen Nationalisten aufrechtzuerhalten. Das Nordirland-Protokoll ist Teil des Brexit-Abkommens von 2019. Es sieht vor, dass sich die zum Vereinigten Königreich gehörende Provinz weiterhin an die Regeln des Binnenmarktes der EU und der Europäischen Zollunion hält. Dies soll Produktkontrollen für die Republik Irland, ein EU-Mitglied, verhindern, um ein Wiederaufflammen des Konflikts zwischen Rivalen und Befürwortern der Vereinigung der beiden Teile Irlands zu vermeiden. Aber jetzt wurde eine innerbritische Grenze geschaffen. Der britische Premierminister Boris Johnson hat im Wahlkampf 2019 gegen den Willen der DUP für die Einigung geworben und sie als großen Durchbruch gefeiert. Bei den Parlamentswahlen gewann er dann eine deutliche Mehrheit. Inzwischen ist er aber wegen des Falls der Lockdown-Partys in der Regierungszentrale in Schwierigkeiten geraten. Letzte Woche musste er sich einem Misstrauensvotum gegen sein eigenes Team stellen. Sie könnte verhängt werden, gilt aber als politisch maßvoll. Laut britischen Kommentatoren will er sich mit dem Schritt die Unterstützung der Brexit-Hardliner in seinem Team sichern.